Wenn dein Kind kürzlich die Vermutung geäußert hat, ADHS zu haben – oder sogar bereits die Diagnose bekommen hat – stehst du vermutlich gerade vor einer großen Mischung aus Fragen, Sorgen, Ängsten. Gleichzeitig möchtest du verstehen, was in deinem Kind vorgeht. In diesem Brief erzähle ich aus meiner eigenen Perspektive – als erwachsener Mensch mit ADHS – was es bedeutet, mit dieser besonderen „Verdrahtung“ zu leben.
Der Brief richtet sich direkt an betroffene Kinder und Jugendliche. Du kannst ihn deinem Kind vorlesen oder gemeinsam lesen. Vielleicht hilft er euch dabei, ADHS nicht als Störung zu sehen, sondern als Teil der Vielfalt, die uns Menschen ausmacht – mit ihren Herausforderungen, aber auch mit echten Superkräften. Ich schrieb ihn an ein verzweifeltes 14-jähriges Mädchen…
Inhaltsverzeichnis
Ein Brief an dich – du besonderer Mensch
Liebe Carla*,
ich bin schon viele Jahre bei deiner Mama in Behandlung, und sie hat mich angesprochen, weil sie weiß, dass ich auch ADHS „habe“.
Ich möchte dir einfach mal erzählen, wie es mir damit ergangen ist. Mein Name ist Henryk, ich bin inzwischen 55 Jahre alt, Papa von vier wundervollen Kindern und habe einen ordentlichen Job.
Ich habe vor vielen Jahren einen Artikel über ADHS gelesen und mich darin sofort wiedererkannt. Gerade in letzter Zeit habe ich mich intensiver damit befasst, weil ich immer wieder Schwierigkeiten habe, die mit ADHS zusammenhängen, und deshalb in den letzten Jahren in meiner Arbeit nicht immer so gut beurteilt worden bin. Jedes Mal sind mir dabei Punkte auf meinem Zeugnis abgezogen worden, weil diese „andere Verdrahtung“ eben Herausforderungen mit sich bringt.
Meistens bin ich ziemlich entspannt, aber Stress entsteht für mich oft dann, wenn andere Stress mit mir haben – vor allem, wenn ich versuche, den üblichen Normen zu entsprechen.
Manchmal fällt es mir schwer, meine Impulse zu kontrollieren. Das heißt, ich habe einen Gedanken – und muss ihn sofort umsetzen. In der Schule war das besonders schwierig. Gerade in meinen Lieblingsfächern konnte ich mich oft nicht zurückhalten: Wenn keiner antworten wollte, habe ich die (richtige) Antwort einfach hereingerufen, ohne mich zu melden. Dadurch galt ich zwar als Störenfried, hatte aber trotzdem immer gute Noten und eine Eins in Mitarbeit.
In Fächern, die mich gelangweilt haben, war ich dagegen oft unaufmerksam und habe „gestört“. Trotz all dessen habe ich die 10. Klasse mit sehr gut abgeschlossen und auch alle weiteren Ausbildungen jeweils mit der Note Eins beendet. Auf fast jedem Zeugnis stand allerdings, dass ich unaufmerksam und verträumt sei.
Aufgaben oder Projekte, die viel Ausdauer erforderten, sind mir früher oft schwergefallen, und ich habe sie nicht immer abgeschlossen. Das gelingt mir heute schon viel besser.
Ich weiß, weil ich darüber gelesen habe, dass manche Menschen mit ADHS gut mit Medikamenten zurechtkommen und dadurch ihre Schwierigkeiten besser in den Griff bekommen. Andererseits habe ich auch gehört, dass gerade Jugendliche berichten, sie hätten durch Medikamente ihre Kreativität verloren und seien lustloser geworden. Erst kürzlich habe ich mit einer jungen Frau (22) gesprochen, die mit 14 selbst entschieden hat, die Medikamente abzusetzen, um „sie selbst“ zu sein. Sie wirkt nach wie vor chaotisch, hat aber eine Ausbildung zur Game-Designerin begonnen und steht zu dem, was sie ist.
Mit Regeln stehe ich seit meiner Kindheit auf Kriegsfuß. Durch Regeln und starre Umfelder fühlte ich mich oft eingeschränkt. Ich habe häufig gedacht: Warum muss ich das so und so machen? So geht es doch viel einfacher. Das war kein Ausdruck von Rebellion oder Aufsässigkeit, sondern zeigt mein großes Bedürfnis nach Selbstständigkeit und Flexibilität. Wenn jemand sagte: „Das macht man aber nicht“, habe ich es gerade deshalb gemacht.
Ich habe erst vor kurzem gelernt, dass das auch mit neurobiologischen Unterschieden zusammenhängt – mit meinen Schwierigkeiten, meine Impulse zu steuern, gut zu planen, mich selbst zu motivieren und ausdauernd zu bleiben. Bei Menschen mit ADHS liegt die Ursache oft darin, dass der Dopaminspiegel (das Hormon, das für gute Gefühle zuständig ist) instabil ist.
Menschen mit ADHS sind aufgrund der genannten Schwierigkeiten anfälliger für Stimmungsschwankungen, traurige Phasen oder trübe Gedanken. Wenn du das bei dir merkst, sprich unbedingt mit jemandem darüber.
Bei mir kommt noch eine andere Schwierigkeit hinzu: Wenn ich angespannt bin oder unter Stress stehe und andere Menschen mit mir sprechen, dann hört sich das für mich an wie ein Wasserfall. Ich höre zwar die Worte, kann aber keinen sinnvollen Gesamtzusammenhang herstellen. Das ist übrigens kein Mangel an Aufmerksamkeit, sondern auch relativ typisch für Menschen mit ADHS.
Viele, die keine Ahnung von ADHS haben, stellen sich vor, dass Menschen mit ADHS unaufmerksame Zappelphilippe sind -so wie in Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter. Das Gegenteil ist der Fall, Menschen mit ADHS können sogar extrem aufmerksam sein – aber eben nicht immer dort, wo es gerade erwartet wird. ADHS bedeutet nicht, dass man keine Aufmerksamkeit hat, sondern dass die Aufmerksamkeit oft schwer zu steuern ist. Statt wie bei einem Scheinwerfer gezielt zu leuchten, springt sie eher wie ein Disco-Licht von einem Reiz zum nächsten – oder bleibt ganz lange auf einer Sache kleben, wie beim sogenannten Hyperfokus. ADHS hat nichts mit Faulheit oder mangelnder Intelligenz zu tun, sondern mit einer anderen Art, wie das Gehirn Reize verarbeitet und organisiert.
Hyperfokus bedeutet, dass man sich so sehr auf eine Sache konzentriert, dass man alles andere um sich herum vergisst. Das kann richtig toll sein, vor allem, wenn es um etwas geht, das man liebt – zum Beispiel ein Hobby, Musik, Zeichnen oder ein spannendes Projekt. Dann kann man stundenlang dranbleiben und ganz besondere Ideen entwickeln. Manchmal vergisst man dabei sogar zu essen und zu trinken. Auch das ist eine Seite von ADHS ist – eine, die oft etwas ganz Besonderes hervorbringt. Du darfst stolz darauf sein, wenn du diese „Superkraft“ manchmal spürst!
Wichtig ist für dich zu wissen, dass all diese Verhaltensweisen Teil der neurobiologischen Vielfalt auf der Erde sind und dass man mit den richtigen Strategien und einem unterstützenden Umfeld all diese Herausforderungen erfolgreich meistern kann.
Was mir geholfen hat, war, mit Meditation, Atem- und Achtsamkeitsübungen zu beginnen – und vor allem, dass ich seit etwa 15 Jahren Kampfsport mache. Das gibt mir Ausgleich und hilft mir, Stress abzubauen.
Ein Tipp von mir: Ich sehe ADHS nicht als Krankheit und auch nicht als Behinderung, sondern eher als Superpower. Auch wenn andere Menschen uns manchmal als chaotisch, unstrukturiert oder planlos wahrnehmen – das sind wir nicht. Unser System funktioniert einfach anders.
Ich erlebe, dass Menschen mit dieser „Superpower“ meistens mega kreativ sind und oft ungewöhnliche Ideen für Problemlösungen haben. Besonders gut klappt das in meinem jetzigen Team, wo meine Kolleginnen meine Herausforderungen kennen und mich unterstützen. So können wir als Team von meinen besonderen Fähigkeiten profitieren. Außerdem können sich Menschen mit ADHS oft sehr schnell und gut an neue Situationen anpassen.
Ich wünsche dir von Herzen, dass du – gemeinsam mit den Menschen, die dich lieben – deinen eigenen Weg findest, auf dem du dich wohlfühlst und sein kannst, wie und was du bist: ein besonderer Mensch.
Liebe Grüße
Henryk
*) Name wurde geändert
… und Medikamente?
Sicher wenn der Leidensdruck gerade für Kinder in der Schule sehr groß ist, kann man das mit Medikamenten „wegmachen“. Das hat mir mein Psychologe auch nahe gelegt, aber irgendwie habe ich überhaupt nicht den Wunsch. Manche berichten davon, dass dann die Kreativität verloren geht. Und das nur, damit ich besser in den vorgegebenen Rastern funktioniere, und meinen Kollegen nicht so viele Probleme mache…
Ich bin mir nicht sicher, ob ich das ausprobieren möchte, meine Superkräfte, meine kreativen Explosionen im Hirn eintauschen gegen langweilige uniforme Normalität? Nur damit ich andere nicht störe?