Leiden als Grenzerfahrung

Lesezeit ca.: 4 Minuten

Zuletzt aktualisiert vor 1 Monat von Henryk

Zum einen leiden wir an unseren Grenzen, an unserer Begrenztheit und zum anderen zeigt uns das Leiden unsere menschlichen Grenzen auf.

Mädchen am Drahtzaun
Grenzen lassen uns leiden – Image by Pexels from Pixabay

Grenzerfahrung: Erlebnis, bei dem Körper und Psyche extremen Belastungen ausgesetzt sind, bei dem jemand seine psychischen und physischen Grenzen erfährt (Duden). Grundprinzip und Zielsetzung z.B. bei Outdoor-Seminaren oder in spezifischen Therapien, die eigenen Möglichkeiten freiwillig ausloten, Grenzen erkennen und anerkennen bzw. eventuell erweitern und überschreiten. (Lexikon der Psychologie)

3 Grenzen, die uns begegnen

  • Die dem Leben innewohnende Endlichkeit
  • Die Erfahrung mit dem Jenseits der Grenze, der Negativität, dem Gegenpol
  • Die Grenze als Äußerstes, als Höchstes

Die dem Leben innewohnende Endlichkeit

Alles, was uns als Lebewesen betrifft, ist begrenzt. Unsere Kraft, unsere Fähigkeiten und unser Leben. Grundlage und wesentliche Bestimmung des Seins. Alles hat ein Ende. Dies ist gleichzeitig die Bedingung dafür, um dem Anderen und dem Negativen begegnen zu können.

Die Erfahrung mit dem Gegenpol

Die Grenze als Wende-, Umschlag- oder Kipppunkt, an dem sich die Dinge ins Entgegengesetzte verkehren. Ein Diesseits und ein Jenseits. Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit, Sinn oder Nichtsinn, Glück und Leid, Fülle und Mangel. Das Erreichen dieser Grenze geht meist einher mit einer tiefen Krise. Es ist eine sehr direkte und persönliche Erfahrung. Im Erleben des Negativen habe ich die Möglichkeit, festzustellen, wie es um mich steht.

Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage.

Hamlet

Erst durch die Grenze gibt es ein Gegenüber, ein Anderes, dem ich begegnen kann. Grenzen sind die Grundlage für ein sich „Auseinandersetzen“, für Begegnung, für Kommunikation.

Erst durch Minus und Plus, männlich und weiblich, entsteht ein „Spannungsfeld“ in dem etwas geschehen kann. Ohne Gegenpol kein Sieg und keine Niederlage. Ohne Grenzen kein Risiko für grandioses Scheitern oder die Chance auf ultimative Höchstleistungen.

Die Grenze als Äußerstes

Zuletzt die Grenze des Mach- und Erreichbaren. Ein sprichwörtliches „bis an die Grenze gehen.“ Ein Endpunkt oder absolutes Maximum. Hier findet keine Begegnung mit dem Anderen statt, sondern mit dir selbst, deinem eigensten inneren Wesen. Selbstbegegnung als philosophische Grenzerfahrung, welche Karl Jasper als Beginn dessen beschreibt, was uns zu Menschen macht. Der Kern unseres Seins.

Diese drei Arten von Grenzen bedingen einander. Erst in seiner Endlichkeit kann der Mensch dem Anderen, als Gegenüber, und dem Ungeplanten und Unerwarteten stellen.

Selbstbegegnung im Leiden

Oft stellt Leiden unser Sein als Ganzes, unsere Existenz infrage. Gerade in dieser Begegnung mit dem Leid und dem Schicksal, der Grenzerfahrung der Ohnmacht, der eigenen Beschränkung, hat der Mensch die Möglichkeit, die tiefsten Erkenntnisse über sich selbst zu gewinnen. In dem Moment ist er außerordentlich sensibel für die Grundprobleme des Menschseins. Wenn er denn bereit ist, sich damit auseinanderzusetzen, sich darauf einzulassen, statt es nur über sich ergehen zu lassen. Oder sich in dem sinnlosen Versuch, es ablehnend zu bekämpfen, erschöpft.

In der Begegnung mit dem Tod erfahren wir die Angst vor der Auslöschung, im Leiden das Ausgeliefertsein, im Kampf die Anstrengung ums (Über-) Leben und in der Schuld die unweigerliche Verstrickung.

Nach Karl Jasper

Diese vier unvermeidlichen Ereignisse katapultieren uns ohne Umwege an die Grundfesten unseres Seins. Die große Frage nach dem „Warum“. Schaffen wir es, unserer Existenz und dem, was uns widerfährt, einen Sinn zu geben?

In unserem Verstehen zu scheitern und keinen Sinn darin zu finden, ist das schlimmste aller Leiden.

Scheitern als Chance

Unsere persönliche Kapitulation gibt uns die Chance zu erkennen, was wir wirklich-wirklich wollen. Ein Nein ist die Frage des Universums an uns, ob wir uns aufgeben oder bereit sind, uns dem Leben vollständig hinzugeben – ergeben. Gerade im Scheitern, in der Unheimlichkeit des Seins, sind wir herausgefordert, die dennoch existierende Wirksamkeit und Gestaltungskraft des Lebens zu entdecken. Erst die Unausweichlichkeit unseres Endes, der Auflösung, des Verschwindens verleiht unserm Tun seinen Wert und dessen Ergebnissen seinen Glanz.

Die Katastrophe ist ein Teil des Lebens, zu dem uns momentan das Verstehen, der Zugang fehlt. Wir verlieren den Halt, uns fehlt die Transparenz und die Orientierung. Meist sind wir anfänglich sprachlos. Ohne Sprache gelingt uns keine Erfahrung. Doch wenn wir zu unserem Ausdruck zurückfinden, wenn wir unser Leid in Worte fassen können, wird es möglich, dieses in unser Leben zu integrieren und es ergibt – wieder – ein stimmiges Ganzes.

Auf dem Boden der Hölle stirbt die Angst.
Und die Freiheit wird geboren.

Henryk Hauptmann

So habe ich es erlebt. Nach dem Durchleben meiner persönlichen Hölle hatte sich Angst und Furcht verflüchtigt. Wenn irgendeine Herausforderung anklopft, denke ich: „Wie schlimm kann es schon werden?“

Angst: Fundamentale Verunsicherung, abgründige Desorientierung, Unheimlichkeit des Seins. Das Erleben der Bodenlosigkeit und Haltlosigkeit im Gewahrwerden der totalen Freiheit. Sie ist unbestimmt und ohne Gegenstand und nach Heidegger durch ihre Nicht-Bestimmbarkeit definiert.

Furcht: Diese dagegen richtet sich auf eine konkret bestimmbare Bedrohung, für welche man sich wappnen kann.

Definition nach Emil Angehrn

Quelle

Dieser Post ist aus der Lektüre des folgenden Artikels entstanden:

Grenzerfahrungen des Menschlichen: psychisches Leiden als Herausforderung der Philosophie
Nach einem Referat am Jahres-Symposium der Psychiatrie Baselland «Konzepte verstehender Psychopathologie und Psychodynamik in der Behandlung psychotischer Störungen» (14.11.2013) / Emil Angehrn / Philosophisches Seminar, Universität Basel, Schweiz

SWISS-ARCHIVES OF NEUROLOGY AND PSYCHIATRY 2014;165(4):106–10 / www.sanp.ch / Link zum PDF (5 Seiten) – lesenswert!


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